Hugo Haase - ein jüdischer Sozialdemokrat im Deutschen Kaiserreich

Ernst-Albert Seils, Hugo Haase. Ein jüdischer Sozialdemokrat im deutschen Kaiserreich. Sein Kampf für Frieden und soziale Gerechtigkeit
Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2016,
833 S., geb., 86,00 €.

Rezension von Holger Czitrich-Stahl, Friedrich-Ebert-Stiftung

Hugo Haase (1863 - 1919)"Hugo Haase (1863–1919) ist als Vorsitzender der SPD und der USPD wohl nur noch den Wenigsten ein Begriff. Der Name dieses Linkssozialisten aus Ostpreußen, in dessen Leben und Wirken sich die ganze Größe des Aufstiegs der deutschen Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert und gleichzeitig ihre Tragik in den Jahren des Ersten Weltkriegs widerspiegelt, geriet beinahe in Vergessenheit. Wissenschaftliche und überhaupt biografische Auseinandersetzungen mit Haase und seinen Spuren fanden sich im Laufe des seit seinem Tod vergangenen Jahrhunderts nur sporadisch. Dieses Desiderats eingedenk hat Ernst-Albert Seils Ende 2016 bei Peter Lang seine monumentale, 833 Seiten starke politische Biografie Haases vorgelegt. Sie trägt den Untertitel: »Ein jüdischer Sozialdemokrat im deutschen Kaiserreich. Sein Kampf für Frieden und soziale Gerechtigkeit«.

Gleich zu Beginn kritisiert Seils den Umgang der Fachwissenschaft mit Haase: »Die Geschichtsforschung wurde seinen Leistungen und seiner Bedeutung bisher nicht in angemessener Weise gerecht.
Möglichst alles noch vorhandene und greifbare Quellenmaterial aufzuspüren und auszuwerten, diese Mühe machten sich die deutschen Historiker bis heute nicht« (S. 20). Seils hat sich dieser Detektivarbeit gestellt und sie mustergültig bewältigt. Mit einer Rekonstruktion äußerst karger Lebens-, Arbeits- und Wohnverhältnisse im ermländischen Allenstein, dem Geburtsort Haases am 29. September1863, führt uns Seils in die Biografie des angehenden Anwalts und Politikers ein. Der Sohn eines armen, am unteren Rand der ländlich geprägten Gesellschaft lebenden jüdischen Schuhmachers erfuhr vom Lebensbeginn an Armut, Hunger und Not, gleichfalls Ausgrenzung im konservativ strukturierten Ostpreußen. Unter solchen Bedingungen musste die Familie Schutz, Sicherheit und Orientierung geben.

Bei jüdischen Familien kamen noch eine ausgeprägte Bildungsbeflissenheit und ein starker Aufstiegswille hinzu. Beides fand sich auch in Haases Elternhaus wieder, ebenso wie eine den Alltag begleitende Religiosität, die ihr Übriges zur Entwicklung von Haases friedvollem, auf Verständigung orientierten, größtmögliche Gerechtigkeit anstrebenden Charakters beigetragen hat. Die Lehre Immanuel Kants übte ebenfalls einen gestaltenden Einfluss aus. Hieraus erwuchs der Wunsch, dem Guten und der Gerechtigkeit als Jurist zu dienen. Mit viel Empathie und auf eine sympathische Art bildhaft-anschaulich lässt Seils den Leser am Fragment des Aufwachsens Haases teilhaben. In Rastenburg am Königlichen Gymnasium schließlich bestand der junge Hugo sein Abitur als Jahrgangsbester an Ostern 1882.

Königsberg, die Stadt Kants, wurde seine nächste Lebensstation, als er an der Universität das Studium der Rechts- und Staatswissenschaften aufnahm. Die Hauptstadt des alten Preußen und des kategorischen Imperativs formte das politisch-moralische Fundament, auf dem die Persönlichkeit des radikaldemokratischen Linkssozialisten wachsen konnte. Es waren die gravierenden sozialen Klassengegensätze, die Kluft zwischen den wenigen Reichen und der Masse der Armen, gar Bettelarmen, von Seils detailreich aus den Quellen illustriert, die Haase zum Sozialisten werden ließen, der 1887 der Sozialdemokratie beitrat und uns auf diese Weise ab 1897, dem Jahr seiner Wahl in den Reichstag, begegnet.

Überhaupt versucht der Autor in diesen Teilen seiner Arbeit, die sich mit dem aufwachsenden Haase befassen, auf durchaus eindrucksvolle Weise die mangelnde personenbezogene Quellenlage durch lokal-, regional- und kulturgeschichtliche Erörterungen auf Quellen- und Literaturbasis zu ersetzen, um so zumindest weitgehend authentische Rahmenbedingungen zu rekonstruieren.

An der Königsberger Universität zählte der deutschnationale Professor Felix Dahn zu seinen Hochschullehrern. Die Auseinandersetzung mit diesem geistigen Umfeld brachte viele junge Studenten zur Beschäftigung mit den Lehren von Kant und Karl Marx. Zu ihnen gehörte neben Hugo Haase auch Otto Braun. Der Leseclub Kantscher Schriften, in dem beide sich betätigten, fungierte unter den Bedingungen des »Sozialistengesetzes« eher als eine getarnte Veranstaltung junger Sozialdemokraten zum Marxstudium, wie Seils feststellt (S. 95). Dass es sich bei der zeitgenössischen junkerlich-bürgerlichen Gesellschaft um einen »Klassenstaat« handelte, der auch die Justiz zur »Klassenjustiz« macht und Gesetze im eigenen Interesse beschließt, ergab sich folglich für Haase, der seitdem seinem von Marx und Kant geprägten radikaldemokratisch-linkssozialistischen Gesellschaftsbild treu blieb. Nach seinem Ersten juristischen Staatsexamen 1885 trat er der SAPD bei, sein Zweites Staatsexamen bestand er 1889. Als bei den Reichstagswahlen von 1890 Carl Schulze den Wahlkreis Königsberg 3 in der Stichwahl vom 1. März erstmals für die Sozialdemokratie gewann, war der politische Bann gegen die Arbeiterpartei gebrochen.

Mit den Daten verfährt Seils hier allerdings etwas zu unkonkret. Als Schulze 1897 starb, folgte ihm Hugo Haase in den Reichstag und wurde nach Arthur Stadthagen der zweite Volljurist der SPD im Reichstag. Er entstammte wie Stadthagen einer jüdischen Familie, allerdings aus dem Berliner Bürgertum, und profilierte sich als Anwalt verfolgter Sozialdemokraten und der Arbeiterschaft Königsbergs. Auf diese Weise wurde Haase bekannt und beliebt, wie Seils im 5. Kapitel des II. Teils ausführt. Aber im Gegensatz zu Stadthagen, der 1892 Berufsverbot erhielt, gelang es der konservativen Richterschaft nicht, Haase auszuschalten. Er blieb bis zu seinem Tode Anwalt und als Jurist der Arbeiterschaft stets eng verbunden. Sein persönlicher Aufstieg bis zum Parteivorsitzenden der SPD nach 1911 spiegelt den Weg der Sozialdemokratie von einer verfolgten Arbeiterpartei zur größten Massen- und Wählerpartei im deutschen Kaiserreich wider.

Tragische Parallelen zu seinem Freund Arthur Stadthagen, dessen Nachlassverwalter er nach seinem Tod am 5. Dezember 1917 war, finden sich nach 1933 im Familienkreis. Sein Schwiegervater, Dr. Max Lichtenstein, wurde 82-jährig nach Theresienstadt deportiert, wo er umgehend verstarb. Mit seiner Frau Thea hatte Hugo Haase drei Kinder, sein Sohn Ernst brachte 1929, zehn Jahre nach dem Tod des Vaters, ein Gedenkbuch zu seinen Ehren heraus, das auch wichtige Reden und Dokumente enthält. Die beiden Töchter wanderten nach Palästina aus, Ernst emigrierte in die USA. Zu den Freunden der Haases zählten u.a. Oscar Cohn, Emanuel Wurm, Arthur Stadthagen aus der Reichstagsfraktion (SPD/USPD), Kurt Rosenfeld (SPD/SAP) und Julius Magnus von der Arbeiterpartei des jüdischen Zionismus, Poale Zion.
Doch seine eher altruistischen Eigenschaften trugen letztlich auch zur Tragik seines eigenen politischen Wegs bei. Als am 4. August 1914 nach heftigen fraktionsinternen Auseinandersetzungen die Mehrheit der Reichstagsfraktion gegen die Meinung Haases und Anderer die Zustimmung zur Bewilligung der Kriegskredite im Reichstag beschloss und durchführte, war es der Vertreter der Fraktionsminderheit, Hugo Haase, der als Ko-Vorsitzender der Fraktion gegen seinen Willen dieses Votum im Reichstag äußerte. Er hielt sich an die Fraktionsdisziplin, bezeichnete dies aber später als seinen größten politischen Fehler. Seils zeichnet auch hier den Weg Haases und der Opposition in die offene Opposition nach.

Am 24. März 1916 gründete sich aus den Ausgeschlossenen der Fraktion, darunter Haase und Georg Ledebour, die »Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft« (SAG), die wiederum im April 1917 zum Kern der neuen USPD werden sollte, eigentlich aber das Erbe der Bebel-SPD anzutreten gedachte.
Haase wurde ihr Vorsitzender, während der Novemberrevolution 1918 Mitglied des »Rates der Volksbeauftragten«, nach seinem Austritt hieraus (29. Dezember 1918) 1919 Mitglied der Nationalversammlung für die USPD. Am 7. November 1919 starb Hugo Haase an den Folgen des auf ihn verübten Revolverattentats. Offen bleibt, ob ein Verwirrter oder ein politischer Attentäter den Anschlag verübte.
Vielleicht ging mit seinem Tod auch eine politische Handlungsalternative verloren, wie Seils mutmaßt.
Widersprechen möchte man ihm nicht.

Ernst-Albert Seils ist mit dieser Biografie ein großer Wurf gelungen. Detailfreude, Gründlichkeit der Recherche und eine angenehme Sprachführung zeichnen diese Biografie aus. Sie bringt uns eine Persönlichkeit zurück, an die wir alle und die Sozialdemokratie uns häufiger und intensiver erinnern sollten. Da fallen auch kleine Versäumnisse der Lektorierung kaum ins Gewicht, wenn man die überaus großartige Gesamtleistung dieses Werks betrachtet."

Holger Czitrich-Stahl, Glienicke/Nordbahn
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